48 Stunden dauerte mein freiwilliger Verzicht auf möglichst alles, das mir im Jahr 1987 noch nicht zur Verfügung gestanden wäre. Ich glaubte ich sei gut vorbereitet, doch schon nach kurzer Zeit zeigten sich die ersten Lücken in meiner Recherche. Ob und wie ich es durchgehalten habe? Eine Reportage.

Ticktack, Ticktack. Es treibt mich langsam in den Wahnsinn. Tagsüber und in der Nacht. Es ist Samstag. Ich will eigentlich noch nicht aufstehen. Für gewöhnlich ist das der Moment, in dem ich zum Smartphone greife, um nachzulesen, welchen Schrott dieser Facebook-Algorithmus dieses Mal für mich vorgesehen hat. Fein säuberlich selektierte Online-Artikel aus aller Welt, direkt reingespült in meine Timeline. Keine Mühe selbst noch nach der Information zu suchen. Selfies und anderes Bildmaterial von rund 580 so genannten Freunden, die sich an ihrem gestrigen Abendessen, ihren selbst gebastelten Halloween-Kostümen oder dem Start ins Wochenende erfreuen. Das gefühlt zehntausendste Grumpy-Cat-Meme auf 9GAG, das neueste Jimmy-Kimmel-Video zum Schieflachen. Heute nicht. Nur dieses nervtötende Geräusch meines analogen Weckers. Ticktack, Ticktack. Ermüdend monoton, ohne Unterbrechung. Es sind ja nur 48 Stunden, aber je mehr ich daran denke, desto mehr nervt es mich. Verpassen werde ich nichts. Auf Facebook ist ohnehin nichts los, wenn niemand im Büro sitzt. Für das Wochenende ist nichts Erwähnenswertes geplant. Nichts, das frischen Wind oder sogar einen lesenswerten Shitstorm in meiner Twitter-Timeline verursachen könnte. Alles easy.

Aller Anfang ist schwer, der analoge wirklich sehr

Bis zirka 16 Uhr hab ich Zeit – dann bekomme ich Besuch. Sie kommt vom Flughafen. Ich hab ihr gesagt, dass ich schwer erreichbar bin. Ablenkung muss her. Ich starte eine Putzaktion in der Wohnung meines Freundes, helfe ihm die Winterreifen aus dem Keller zu schleppen. Eigentlich eine gute Idee für den Feiertag. Keine Ahnung, wie spät es ist, dieser antike Störenfried tickt im Moment ganz gut ohne meine Aufmerksamkeit. Es reicht ja schließlich, dass ich das Ding die ganze Nacht neben mir hatte und dann auch noch unterwegs in meiner Handtasche rumschleppe, damit ich mein Zeitgefühl nicht ganz dem Zufall überlassen muss. Ein Fan von Armbanduhren war ich noch nie, somit besitze ich auch keine. Langsam werde ich nervös. Schon bald halb drei. Wie war das jetzt nochmal? Sollte der Flieger um 15 Uhr landen, oder…? Hm. Das haben wir uns vor zwei Tagen so nebenbei im Facebook-Chat ausgemacht. Jetzt wäre es praktisch nachzulesen. Egal. Ich fahre heim. Praktischerweise habe ja schon einiges im Vorhinein recherchiert. Ich wohne im 20. Bezirk in Wien und die U4 Station Friedensbrücke gibt es schon seit einer Ewigkeit. Nicht bedacht habe ich, dass ich mit der U6 eigentlich viel schneller zuhause wäre. Man muss jetzt ja nicht übertreiben. Die Zweifel über den Entstehungszeitpunkt der Station Jägerstraße verfliegen schnell. Bringt ja doch nichts, wie soll ich das jetzt herausfinden. Kurz muss ich Schmunzeln, als mir in dem Moment der Youtube-Kracher „If Google was a guy“ von CollegeHumor einfällt.

Wäre doch toll, wenn an jeder Ecke einen Klugscheißer sitzen würde, der einem die irrsinnigsten Frage beantwortet. Auf dem Weg zur Wohnung entdecke ich die Zeitungsständer mit den Tageszeitungen. Zumindest so kann ich heute herausfinden, was es Neues gibt. Ganz analog, ganz ohne Slideshows, Links und Infografik. Dafür praktisch beim Halten und selbst bei leerem Akku lesbar. Beim Öffnen des Haustores die nächste Überraschung. Die drei Stockwerke werden wohl ausnahmsweise zu Fuß erklommen –Liftbaujahr 1998. Schadet mir ohnehin nicht. Atemlos komm ich oben an, Helene-Fischer-Ohrwurm inklusive. Es bleibt mir jetzt keine andere Gegenmaßnahme übrig, als mir das Achtziger-Medley, das mir gestern zur Einstimmung vorgespielt wurde, in Erinnerung zu rufen. Radio wäre natürlich auch noch eine Option gewesen, wobei schwierig. Ö3 gäbe es ja schon weit länger als mich, doch One Direction und ähnliche Kandidaten aus der Chartliste, waren 1987 wohl noch nicht mal ein schmutziger Gedanke ihrer Eltern. Gut, das fällt mal aus. Fernsehen zur Sicherheit auch. Wieder etwas, das ich besser recherchieren hätte können. Irgendwas, irgendwo wäre doch sicher ansatzweise 80er-tauglich gewesen. Egal. Es klingelt. Der Besuch ist da.

Social Media Isolation?

In dem Moment, als mir diagnostiziert wird, dass ich einfach nur irre bin, bin ich fast ein wenig stolz. Bis dato hab ich mich ja eigentlich ganz gut gehalten. Zum Glück weiß mein Besuch, wie diese italienische Espresso-Kanne für den Herd zu bedienen ist. Die Anleitung wollte ich eigentlich noch vor Projektstart nachgoogeln. Der Kaffee kommt schließlich raus und schmeckt großartig, wenn auch etwas zu stark für meinen Geschmack. Schlafen will ich heute ohnehin noch nicht allzu früh. Die ersten Notizen, die in meinem Block nach dem Kaffeetratsch landen, sprechen Bände. Poetry Slam Meisterschaften Gewinner-Video ansehen, Zugticket buchen, Öffnungszeiten Handy-Shop. Eine TODO-Liste für meine Rückkehr in die Zukunft. Aus Rücksicht auf mein Projekt, bleiben die Leute in meinem Umfeld bei bloßen Erzählungen ohne Verweise auf Facebook-Bilder oder Kommentare. Eigentlich nicht übel. Früher hat das ja auch so funktioniert. Ein paar Stunden später sitze ich vor der wohl besten Martinigans meines Lebens. Im Normalfall hätte ich diesen kulinarischen Hochgenuss in allen Facetten digital dokumentiert, diesmal erzähl ich nicht der halben Welt davon, sondern nur den Leuten, mit denen ich zufällig ins Gespräch komme. Der Tag geht zu Ende. Ohne Gute-Nacht-Wünsche auf WhatsApp.

Von digitalen Konflikten im Ersten Weltkrieg und Rezepten aus Omas Zeiten

Für den Sonntag ist ein Museumsbesuch geplant. Ich ärgere mich, denn an das Ticken hab ich mich zwar mittlerweile gewöhnt, aber der analoge Störenfried weckt mit zeitlichen Abweichungen von mindestens einer halben Stunde. Egal, Stress hab ich ja keinen und im Museum bin ich dann wieder gut abgelenkt von meiner digitalen Abstinenz. Das heißt, nur bis zu dem Moment, in dem ich versehentlich den Touchscreen ansteuere, um über ein Exponat aus dem Ersten Weltkrieg nachzulesen. Es fällt mir zum Glück gleich wieder ein. Als ich mich im Raum umsehe, entdecke ich ein paar verwaiste Infozettel. Die Euphorie ist nur von kurzer Dauer. Ohne Wikipedia-Links und Google-Bildersuche macht selbst Aneignen von unnützem Klugscheißerwissen mäßig Spaß.
Der spätere Blick in den Kühlschrank erinnert mich daran, dass ich ja die Eier verkochen wollte. Eine Projektkrise bahnt sich an. Ich fühle mich mies, weil ich zig Sachen in der Küche finde, von denen ich nicht weiß, ob es sie 1987 schon gegeben hat. Smoothies und Donuts, hätten wohl kaum so geheißen, hätten sie in dieser oder zumindest ähnlicher Form schon in Österreich existiert. Ich stelle alles in Frage. Ach, bin ich heuchlerisch. Ich hätte noch besser nachlesen können. Ich hatte zwar die digitalen Dinge um mich in meinem Alltag bedacht, aber nicht die Banalitäten wie Lebensmittelmarken oder die elektrische Zahnbürste, die ich mir heute schon in den Mund gesteckt habe. Ich hab auch die ganze Zeit in Euro bezahlt– gut das lässt sich wohl kaum umgehen. Und wann wurde eigentlich das Ceranfeld etabliert? Die Bücherei hat heute zu und selbst wenn, wie hätte ich mich da durchstöbern müssen, um an die gewünschten Informationen zu kommen. In dem Moment fällt mir noch ein, dass ich mich eigentlich ein bisschen zusammenreißen könnte. First-World-Problems nennt man das wohl. Mehr kann man zu diesem Dilemma wohl wirklich nicht sagen. Egal, ich zieh da ganze jetzt durch. So gut es mir nun eben möglich ist. Aus den Eiern mach ich eine Biskuitroulade. Das geht schnell und vor allem hab ich das Rezept in einem, von meiner Mutter händisch verfassten, Kochbuch gefunden. Ich hatte es ein wenig belächelt, als sie es mir vor zwei Jahren überreichte. Ich glaube seitdem, hab ich nie wieder hinein gesehen, Rezepte immer schnell im Internet nachgelesen und mich dann auch geärgert, wenn sich die automatische Tastensperre beim Smartphone aktiviert hat und ich mit teigigen Fingern ziemlich ungeschickt noch einmal die genaue Abfolge nachlesen wollte. Die Roulade schmeckt nach analogem Rezept mindestens genauso gut, vermutlich auch weil sie ohne Low-Carb, Low-Fat oder sonstigen neumodernen Ratschlägen zubereitet wurde. Das Ego gestärkt, verweigere ich nun auch tatsächlich ein Glas vom heiß geliebten Cola Zero und trinke zur Abwechslung mal die herkömmliche Variante. Darüber weiß ich mit ziemlicher Sicherheit alles Notwendige zur Entstehungshistorie.

 

Endspurt Zeitreise, Endstation: innere Ruhe

Am Abend ist ein Besuch bei einem Bekannten geplant. Blöderweise, habe ich mir seine Türnummer nicht gemerkt. Anrufen oder schnell in der E-Mail nachlesen spielt sich wohl nicht. Zum Glück gibt es ja nur 20 Optionen und es klappt schon beim fünften Versuch. Auf dem Heimweg merke ich langsam, dass ich müde werde. Ziemlich viel hab ich an diesem Wochenende erledigt. Ob das an meiner digitalen Abstinenz liegt? Mittlerweile bin ich auch schon etwas ruhiger. Der geplante Akt des feierlichen Facebook-Updates um 00:01 sollte sich sogar auf den nächsten Morgen verschieben. Zu gemütlich liege ich schon im Bett, um jetzt noch einmal aufzustehen und mein Handy aus seiner Festnetzposition auf der Kommode zu befreien. Mein Freund freut sich darüber, dass er endlich wieder den Fernseher in meiner Gegenwart aufdrehen kann. Die gefühlt hundertste Doku zur Berliner Mauer begleitet mich an das Ende meiner Zeitreise. Ein kurzer Einblick, wie es damals wohl wirklich gewesen sein könnte. Mit den Bildern der Wiedervereinigung und dem monotonen Ticken meines treuen Wochenendbegleiters schlafe ich ein.